MAX ANNAS
Morduntersuchungskommission. Der Fall Daniela Nitschke
1
Auf der Bühne trage ich immer eine Sonnenbrille. Schon seit Jahren. Und auf jeden Fall, seit ich mir eine richtig gute leisten kann.
I always wear sunglasses on stage. For years. And definitely since I can afford a really good pair.
Das hat damit zu tun, dass ich das grelle Licht in den Augen nicht vertrage. Es schadet der Konzentration beim Spielen, sich immer wieder so zu platzieren, dass man nicht geblendet wird. Und Konzentration ist das Allerwichtigste in meinem Beruf.
That has to do with the fact that I can’t stand the spotlight in my eyes. It damages the concentration when playing to place yourself in such a way that you are not blinded. And concentration is the most important thing in my job.
Das ist der eine Grund.
That’s one reason.
Der andere ist, dass ich gern ins Publikum schaue. Ich sehe gern, wie sich die Leute verhalten. Die, die ganz fokussiert sind, jeden neuen Ton antizipieren. Die anderen, die einfach trinken, und bei denen man nicht so genau weiß, wo sie gerade mit ihren Gedanken sind. Dann die, die mit anderen quatschen und sich nicht um die Musik scheren. Ja, klar, die gibt es auch. Und dann die, die gehen und kommen, die auch woanders sein könnten.
The other is that I like looking at the audience. I like to see how people behave. Those who are fully focused anticipate each new sound. The others, who just drink, you don’t know exactly where their thoughts are at any given moment. Then there are those who chat with others and don’t care about the music. Yes, of course, there are. And then those who come and go, who could just as well be somewhere else.
Warum verlassen sie den Raum? Den Saal. Die Bar. Gerade jetzt. Gerade in der Minute, in der ich mein Solo spiele.
Why are they leaving the room? The hall. The bar. Right now. Just as I start to play my solo.
Oder warum kommen sie erst jetzt? Sie könnten den besten Teil des Abends schon verpasst haben. Geht ihnen denn das nicht durch den Kopf?
Or why are they only coming now? You might have already missed the best part of the evening. Isn’t that what’s on their mind?
Wenn ich sie mir so anschaue, dann müssen sie das nicht unbedingt mitkriegen. Auch, weil es eine Frage der Sicherheit ist. Meiner eigenen Sicherheit. Wie Sie selbst gleich sehen werden.
When I observe them as I do, they don’t necessarily have to realize it. Also because it is a question of security. My own safety. As you will soon see for yourself.
An dem Abend, diesem ganz speziellen Abend, rettet die Sonnenbrille mir das Leben. Das ist einfach so. Egal, wie ich die Dinge betrachte.
That evening, that very special evening, the sunglasses saved my life. That’s just the way it is. No matter how I look at things.
Und einem anderen wird sie es nehmen. Nicht die Sonnenbrille selbst, sie ist nur ein Objekt, ein Mittel eher, sondern die Beobachtung, die ich von der Bühne aus mache. Und die ohne die Sonnenbrille nicht hätte geschehen können. Das Licht ist nämlich wirklich recht grell für eine kleine Bar mit Bühne. Und ohne die Sonnenbrille hätte ich die Augen die ganze Zeit beinah geschlossen gehalten.
And she will take it from another. Not the sunglasses themselves, they are just an object, rather a means, but the observation I make from the stage. And which couldn’t have happened without the sunglasses. The light is really quite bright for a small bar with a stage. And without the sunglasses, I would have kept my eyes almost closed the entire time.
So aber sehe ich den Mann, der durch die Tür kommt und sich umschaut, als suche er jemanden. Dann, nach einem längeren Moment, geht er an die Theke und bestellt einen Drink.
But as it is, I see the man coming through the door and looking around as if he were looking for someone. Then, after a long moment, he goes to the counter and orders a drink.
Soweit nichts Besonderes. Aber ich kenne den Mann.
So far nothing special. But I know the man.
Oder besser: Ich bin ihm schon einmal begegnet.
Or rather: I’ve met him once before.
Und das ist gar nicht lange her.
And that’s not long ago.
Gerade verpasse ich beinahe den Einsatz, als Francks Posaune leiser wird. Denn mir fällt ein, wo ich den Mann schon einmal gesehen habe. Und wann.
I almost miss the cue when Franck’s trombone gets quieter. Because I remember where I’ve seen the man before. And when.
Unauffällige Frisur, das Haar lose nach hinten gekämmt, Jeansjacke und Hemd, die dunkle Hose kann ich in dem Licht kaum erkennen. Aber den Rest, den kenne ich.
Unobtrusive hairstyle, loosely combed back, denim jacket and shirt, I can barely see the dark trousers in the light. But I know the rest.
Kurz konzentriere ich mich auf meinen Beitrag. Bass-Solo mit eingeworfenen Tupfern von Piano und Schlagzeug. Als ich das Stück wieder für die anderen öffne, weiß ich es. Ich hatte etwas zu Hause vergessen, am Nachmittag, nur ein paar Stunden ist das her, drehte mich um und ging wieder auf die Haustür zu. Da stand er ganz unbeteiligt und blickte in irgendein Parterrefenster. Es war keine wichtige Begegnung für mich. Wir haben uns nicht in die Augen gesehen, wir haben einander kaum bemerkt. Oder besser: Ich habe ihn kaum bemerkt.
I’ll just focus on my contribution for a moment. Bass solo with punctuation thrown in by piano and drums. When I open the piece up again for the others, I know it. I had forgotten something at home in the afternoon, only a few hours ago, turned around and went back to the front door. There he stood quite impassively and looked into the ground-floor window. It wasn’t an important encounter for me. We didn’t look into each other’s eyes, we hardly noticed each other. Or rather: I hardly noticed him.
Und trotzdem. Irgendetwas ist hängen geblieben.
And nevertheless. Something stuck.
Der Mann trinkt ein Bier. Langsam, Schluck für Schluck. Dabei betrachtet er unbeteiligt die Bühne. Er fällt hier nicht auf. Die meisten Leute im Publikum sind weiße Männer. Sogar in seinem Alter. Irgendetwas zwischen 30 und 40. Und doch ist da etwas, das ist anders an ihm. In einem dünnen Lichtstrahl, der von irgendwo über der Theke auf ihn fällt, sehe ich deutlich die rötlich-bronzene Gesichtshaut.
The man is drinking a beer. Slowly, sip by sip. He looks at the stage impassively. He doesn’t stand out here. Most of the people in the audience are white males. In his age group. Somewhere between 30 and 40. And yet there is something that is different about him. In a thin beam of light falling on him from somewhere above the counter, I can clearly see the reddish-bronze tanned complexion of his face.
Der Mann ist nicht von hier. Er ist weiß, aber er lebt nicht in Deutschland.
The man is not from here. He’s white, but he doesn’t live in Germany.
Die Weißen in Deutschland sind bleich. Manchmal holen sie sich einen Sonnenbrand. Dann sind sie rosa oder rot wie ein ungebratenes Steak. Aber ihre Haut hat nie diese bronzene Tönung.
The whites in Germany are pale. Sometimes they get sunburned. Then they are pink or red like an unfried steak. But their skin never gets that bronze tint.
Dieser Mann hat sie. Das bedeutet, dass er in einem anderen Klima lebt. Und dass er mit ziemlicher Sicherheit dort aufgewachsen ist.
This man has it. That means he lives in a different climate. And that he almost certainly grew up there.
Und jetzt fällt es mir wieder ein. Das, was ich am Nachmittag wahrgenommen habe. Das eine kleine Detail. Es war nicht wichtig. Nicht in jenem Moment. Ich habe nur sein Profil gesehen. Kein Grund anzunehmen, dass ich dem Mann in der Jeansjacke noch einmal begegnen würde. Aber mir fiel doch auf, dass die Haut unter der Nase deutlich heller war als der Rest des Gesichts.
And now I remember. What I noticed in the afternoon. That one small detail. It wasn’t important. Not at that moment. I only saw his profile. No reason to assume that I would meet the man in the denim jacket again. But I did notice that the skin under the nose was noticeably lighter than the rest of the face.
Denn da, wo die Haut weißer war, fahler, da war bis vor kurzem noch ein Schnurrbart gewesen. Und ich erinnere mich an noch etwas. Die Hose, die er trug, hatte noch den Schlag der 70er-Jahre.
Because where the skin was whiter, paler, there had been a mustache until recently. And I remember something else. The trousers he was wearing still had the wide flares of the 70s.
Wir beenden das Stück gerade mit einem gemeinsamen Ausklang.
We’re just finishing the piece with a finale together.
Ich zupfe ein paar Mal an der tiefsten Saite, lasse sie schwingen, und denke an Südafrika. Dort ist der Mann in der Jeansjacke aufgewachsen, ich bin mir sicher. Und den typisch burischen Schnurrbart hat er sich abgenommen. Mit dem würde er hier im Jazzclub auffallen.
I pluck the lowest string a few times, let it vibrate, and think of South Africa. That’s where the man in the denim jacket grew up, I’m sure. And he lost his typical Boer mustache. With that he would attract attention here in the jazz club.
In den Applaus hinein spricht Gordon ins Mikrofon. „On Bass Billy Ndlovu“, sagt er.
Gordon speaks into the microphone into the applause. “On bass, Billy Ndlovu,” he says.
Billy Ndlovu, das bin ich.
Billy Ndlovu, that’s me.
Jazzmusiker.
Jazz musician.
Bassist.
Südafrikaner im Exil.
South African in exile.
4
„Hey, wassup?“, fragt Gordon. Wir sind backstage, es ist eng, alle schwitzen noch. Und alle nehmen sich von den Schnittchen und vom Bier.
“Hey, whatup?” asks Gordon. We’re backstage, it’s tight, everyone’s still sweating. And everyone tucks in to their sandwiches and beer.
Franck, Posaunist aus Genf, der wegen der Aufnahmen für den Soundtrack zu einem Avantgardefilm in West-Berlin ist. Gordon, Pianist aus Philadelphia, der einen Liebhaber hier hat, und wann immer es möglich ist, in die Stadt kommt. Mein bra Dennis aus East London, mit dem ich aufgewachsen bin im Township, mein bester Freund, der Drummer.
Franck, trombonist from Geneva, who is in West Berlin to record the soundtrack for an avant-garde film. Gordon, pianist from Philadelphia who has a lover here and comes to town whenever possible. My bra Dennis from East London who I grew up with in the township, my best friend, the drummer.
Gordon guckt mich an. „Hey, wassup?“
Gordon looks at me. “Hey, whatup?”
Ich nehme mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setze mich auf den Sessel in der Ecke. Winke ab, bin überraschend ausgelaugt. Ich bin immer platt nach dem Gig. Den Bass zu spielen ist eine extreme, eine sehr physische Sache. Und ich spiele den Bass auf eine Art, die den ganzen Körper fordert. Meinen – und den des Instruments.
Aber das ist es nicht. Mein Zustand hat einen anderen Grund. Ich schließe die Augen, um mich an den Buren zu erinnern. Ich bin mir sicher, dass er Bure ist. Ach was … ich weiß es.
I grab a beer from the fridge and sit in the chair in the corner. Wave it off, I’m surprisingly drained. I’m always floored after the gig. Playing the bass is an extreme, very physical thing. And I play the bass in a way that engages the whole body. Mine – and that of the instrument. But that’s not it. My condition has another reason. I close my eyes to remember the Boer. I’m sure he’s a Boer. Oh no… I know.
Was soll ich sagen?
What can I say?
Und wem?
And who?
Dennis schüttet sich Bier in den Schlund. Keinen Tropfen Alkohol vor dem Gig, aber dafür ordentlich danach.
Dennis pours beer down his throat. Never a drop of alcohol before the gig, but always plenty afterwards.
Dennis würde mich verstehen. Wir teilen alles. Fast alles. Wir sind damals zusammen aus Südafrika nach Europa gekommen. Es war der einzige Weg, zu entkommen. Der Jazz.
Dennis would understand me. We share everything. Almost everything. We came to Europe together from South Africa. It was the only way to escape. Jazz.
Aber Dennis weiß nur ganz grob, was ich mache. Eigentlich weiß er so gut wie alles über mich. Aber davon habe ich selbst ihm fast nichts erzählt. Was er nicht weiß … Das kann er nicht verraten. Und darum geht es. Selbst wenn der Bure mit der gezogenen Waffe vor ihm stehen würde, könnte Dennis nichts erzählen, was die nicht schon wissen. Klar, Dennis hat sich schon ein paar Mal gewundert, dass ich verschwunden bin, ohne etwas zu erklären. Nach einem Gig. Während eines Frühstücks. Direkt nach der Ankunft auf einem Bahnhof irgendwo in der Welt. Und deshalb kann er sich Dinge denken. Ich verberge sie ja auch nicht direkt vor ihm.
Natürlich denkt er sich seinen Teil.
But Dennis only knows very vaguely what I’m doing. In fact, he knows almost everything about me. But I hardly told him anything about it myself. What he doesn’t know… he can’t tell. And that’s what it’s all about. Even if the Boer was standing in front of him with his gun drawn, Dennis couldn’t tell him anything they didn’t already know. Sure, Dennis has wondered a few times why I’ve disappeared without explaining anything. After a gig. During a breakfast. Immediately upon arrival at a train station anywhere in the world. And that’s why he can imagine. I don’t hide them directly from him either. Of course he imagines.
Aber er weiß es nicht.
But he doesn’t know.
Außerdem ist er mein Gast. Unser Gast. Christine und ich haben das Kinderzimmer für ihn freigeräumt.
Besides, he’s my guest. Our guest. Christine and I cleared the children’s room for him.
Er ist einfach zu nah an allem dran. Ihn werde ich nicht behelligen.
He’s just too close to everything. I won’t bother him.
Gordon ist ein guter Freund. Ich spiele seit mehr als fünfzehn Jahren immer wieder mit ihm zusammen. Er ist auf drei meiner Alben dabei, ich auf einem von ihm. Aber wir haben nie Dinge geteilt, die über Musik hinausgehen. Klar ist er auf der richtigen Seite, politisch. Er ist in den 50er-Jahren in Atlanta aufgewachsen und hat alles gesehen, wirklich alles. Diese andere und doch so ähnliche Art von Apartheid. Und wenn er wütend ist, dann hört man das. Aber das ist es immer seltener. Mittlerweile redet er mehr von Spiritualität als davon, sich zu bewaffnen. Aber weder die Apartheid noch die Ungerechtigkeit in den USA kann man durch Meditieren besiegen. Er wäre die falsche Wahl.
Gordon is a good friend. I’ve been playing with him on and off for more than fifteen years. He’s on three of my albums and I’m on one of his. But we’ve never shared things beyond music. Of course he’s on the right side, politically. Growing up in Atlanta in the ’50s, he’s seen everything, absolutely everything. This different and yet similar kind of apartheid. And when he’s angry, you hear it. But it’s less and less often. He now talks more about spirituality than about arming himself. But neither apartheid nor injustice in the USA can be defeated by meditation. He would be the wrong choice.
Trevor aus London, der Altsaxofonist, der wegen Aufnahmen für ein Album in der Stadt ist, steht noch an der Theke. Ich will gar nicht wissen, was er sich da besorgt. Gleich ist er zu bedröhnt, um mir überhaupt zuzuhören. Mit niemandem habe ich so oft gespielt, auf Bühnen und in Studios, so viel diskutiert. Trevor erklärt jeden Aufstand, unterstützt jeden bewaffneten Anschlag, kann mit seinem Marxismus auch politische Systeme analysieren, die er noch nicht von innen gesehen hat. Und er ist schon fast überall gewesen. Aber er macht das alles von der Theke aus. Das macht es nicht schlecht. Ich habe viel von ihm gelernt. Und es gibt fast keine Hilfe, um die ich ihn nicht bitten würde. Aber zwei Dinge kommen nicht in Frage. Mein Neugeborenes hätte ich ihm nicht in die Hände gelegt – er würde es versehentlich fallen lassen. Zum Glück ist Mary jetzt schon vier Jahre alt. Aber ich würde auch heute noch mein Kind nicht in seine Obhut geben. Und das hier … dafür ist er auch nicht der Richtige.
Trevor from London, the alto sax player who’s in town to record an album, is still at the counter. I don’t even want to know what he’s getting himself into. Soon he’s too stoned to even listen to me. I haven’t played with anyone so often, on stages and in studios, discussed so much. Trevor explains every uprising, supports every armed attack, and with his Marxism he can also analyze political systems that he has not yet seen from the inside. And he’s been almost everywhere. But he does it all from the counter. That doesn’t make it bad. I learned a lot from him. And there is almost no help that I would not ask him for. But two things are out of the question. I would never put my newborn into his hands – he would accidentally drop it. Luckily Mary is now four years old. But even today I wouldn’t put my child in his care. And this… he’s not the right person for this either.
Bleibt Franck.
Franck stays.
Mit Franck habe ich schon ganze Nächte hindurch diskutiert. Für ihn ist alles, was er tut, die politische Konsequenz aus irgendetwas. Nach London ist er 1970 gekommen, weil er nicht mehr in so einer weißen Umgebung wie der Schweiz leben und spielen wollte. Free Jazz hat er gemacht, weil man die Welt mit Kunst korrigieren kann. Und jetzt wird er Jazz nicht mehr lange spielen, da bin ich mir sicher. Er interessiert sich nun für andere Formen. Je weniger Töne man macht, desto besser, hat er einmal gesagt. Den Lärm aus der Welt nehmen. Was auch immer …
I’ve been arguing with Franck all night long. For him everything he does is the political consequence of something. He came to London in 1970 because he no longer wanted to live and play in such a white environment as Switzerland. He did free jazz because you can correct the world with art. And now he won’t be playing jazz much longer, I’m sure of that. He is now interested in other forms. The fewer notes you play, the better, he once said. Take the noise out of the world. What ever …
Er würde es verstehen.
He would understand.
Er würde es verstehen und gleich irgendwelche Vorschläge machen, wie ich es verbessern sollte.
He would understand and immediately make a list of suggestions as to how I should improve it.
Aber auch ihm habe ich nie erzählt, was ich mache.
But I never told him what I do either.
Franck, denke ich.
Frank I think.
Franck.
Wer sonst?
Who else?